Der Wahlbezirk von Daniel Caspary reicht vom Schwarzwald über die Rheinebene bis zum Odenwald. Der gebürtige Nordbadener vertritt damit einen Bezirk, der neun Bundestagswahlkreisen entspricht. Wenn man Caspary, der im Europaparlament den Vorsitz der CDU/CSU-Gruppe innehat, nach der Zukunft des Europaparlaments fragt, dann fallen Begriffe wie „Bescheidenheit“ oder „Sparsamkeit“. Wenn es nach ihm geht, dann soll das Europaparlament kleiner werden, und zwar deutlich.
Wenn hingegen die Abgeordnete Pervenche Berès über die Zusammensetzung des Europaparlaments spricht, dann ist von einem „sehr großen Defizit“ die Rede. Damit meint die Französin aus dem Wahlbezirk Ile-de-France die unzureichende Berücksichtigung ihres eigenen Landes und anderer EU-Mitgliedstaaten bei der Mandatsverteilung. Berès setzt sich deshalb dafür ein, dass die Zahl der französischen Abgeordneten im Europaparlament demnächst von Seventy four auf Seventy eight steigt. Das „bestehende Missverhältnis zulasten Frankreichs“ bei der Aufschlüsselung der Sitze müsse ein Ende haben, fordert sie.
Ein französischer Abgeordneter spricht im Schnitt für 900.833 Menschen
Die Klage der Sozialistin ist berechtigt, denn jeder einzelne Europaabgeordnete Frankreichs muss – rein statistisch – so viele Menschen vertreten wie kein Parlamentarier aus einem anderen EU-Land. Während ein französischer Parlamentarier im Schnitt für 900.833 Menschen spricht, sind es bei einem maltesischen Abgeordneten nur seventy two.401 Personen. Dies entspricht im Grundsatz durchaus dem Prinzip der „degressiven Proportionalität“. Sprich: Größere Staaten wie Deutschland oder Frankreich verfügten im EU-Parlament über mehr Sitze als kleinere Staaten. Allerdings fallen bei den Europawahlen die Stimmen in den kleineren Ländern stärker ins Gewicht: In Malta oder Luxemburg sind weniger Stimmen zur Wahl eines Abgeordneten nötig. Es gibt aber ein Discipline: In der bestehenden Sitzverteilung existieren Unwuchten, die mehrere Staaten benachteiligen – an erster Stelle Frankreich und Spanien.
Dass sich in diesen Tagen Abgeordnete wie der CDU-Mann Caspary und die Sozialistin Berès mit der Sitzverteilung im Straßburger Parlament befassen, hat mit dem Brexit zu tun. Wenn Großbritannien voraussichtlich im März 2019 aus der EU austritt, fallen auch die Seventy three britischen Mandate im EU-Parlament weg. Wenn es allein nach dem Willen von Caspary und der Abgeordneten von CDU und CSU gegangen wäre, hätte dies zu einer Schrumpfkur in der Abgeordnetenkammer mit ihren derzeit 751 Abgeordneten geführt, die – nach Abzug aller britischen Mandate – nur 678 Sitze umfasst hätte. „Das wäre ein gutes Zeichen“, sagt Caspary.
Bei der Debatte unter den Straßburger Abgeordneten geht es letztlich auch um das Selbstverständnis eines Parlaments, dem das Bundesverfassungsgericht vor knapp vier Jahren in einem umstrittenen Sperrklausel-Urteil bescheinigte, dass es eher als der Bundestag mit einer parteipolitischen Zersplitterung leben könne. Ein verschlanktes Europaparlament, so lautet das Kalkül der Befürworter einer deutlich verkleinerten Kammer, dürfte auch im Ansehen der Bürger steigen.
Allerdings wird die Schrumpfung des EU-Parlaments nicht so vonstattengehen, wie es sich die Unionsleute wünschen. Ein Entwurf des zuständigen Verfassungsausschusses sieht vor, dass nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs nur fifty one der britischen Sitze wegfallen. Die restlichen 22 frei werdenden Mandate sollen dazu dienen, das bestehende Missverhältnis zwischen Bevölkerungsgröße und Abgeordnetenzahl in einigen Mitgliedstaaten wie Frankreich oder Spanien wieder auszuwuchten. Dem Entwurf zufolge sollen Frankreich und Spanien jeweils vier Abgeordnete mehr bekommen. Deutschland hat ohnehin schon die im EU-Vertrag von Lissabon vorgesehene Höchstzahl von 96 erreicht. Daran wird sich additionally nichts ändern. Dass Frankreich im bestehenden Machine benachteiligt wird, leugnet auch Caspary nicht: „Französische Abgeordnete vertreten im 2d mehr Abgeordnete als wir.“
Abstimmung im Verfassungsausschuss am Donnerstag geplant
Auf den letzten Metern der Beratungen bringen Abgeordnete aus einzelnen Mitgliedstaaten neue Varianten zur Aufteilung der Sitze ins Spiel, um ihrem Heimatland ein Plus bei den Mandaten zu verschaffen. Nach dem vorliegenden Entwurf des Verfassungsausschusses gehören neben Frankreich und Spanien bei der Neuverteilung der Sitze noch zehn weitere Staaten zu den Brexit-Profiteuren: Italien, die Niederlande, Schweden, Österreich, Dänemark, Finnland, die Slowakei, Irland, Kroatien und Estland. Vor der am kommenden Donnerstag geplanten Abstimmung im Verfassungsausschuss machen etliche Parlamentarier – vor allem Abgeordnete aus Polen und Rumänien – ebenfalls einen Anspruch auf einen Mandatszuwachs geltend. Inzwischen gleicht das Gefeilsche um die Sitze einem Basar. So machen die Niederländer geltend, dass ihnen aufgrund ihrer Bevölkerungszahl ein weiterer Sitz zustehe, wenn Rumänien mit einem Zusatzmandat bedacht wird.
Der CDU-Abgeordnete Caspary hält die Mandatszahl von 705 für « grenzwertig »
Aufgrund dieser neuen Begehrlichkeiten ist es denkbar, dass in die Straßburger Kammer nach der nächsten Europawahl 2019 nicht wie geplant seven hundred Abgeordnete einziehen, sondern 710. Dabei hält Caspary schon die ebenfalls diskutierte Mandatszahl von 705 für „grenzwertig“.
Aber selbst mit diesem Wert wäre das Europaparlament immer noch kleiner als der Bundestag, der gegenwärtig 709 Abgeordnete umfasst. „Ich sehe das als eine Herausforderung an den Bundestag, sich an seiner Richtgröße von 598 Mandaten zu orientieren“, sagt Caspary.
Abstimmung im Plenum zu Beginn des kommenden Jahres
Zum Schwur kommt es unter den Europaabgeordneten zu Beginn des kommenden Jahres bei der Abstimmung im Plenum, das den neuen Proporz zwischen den Mitgliedstaaten absegnen muss. Anschließend haben dann die EU-Mitgliedstaaten das letzte Wort über den neuen Verteilungsschlüssel. Bei einem im kommenden Februar geplanten EU-Gipfel steht die Verteilung der Straßburger Sitze auf der Tagesordnung. Der SPD-Abgeordnete Jo Leinen ist überzeugt davon, dass die Staats- und Regierungschefs die neue Sitzverteilung absegnen werden. Seine Begründung: „Kein Mitgliedstaat verliert im Vergleich zum jetzigen Machine einen Sitz.“
Schwierige Beratungen über transnationale Listen
Als schwieriger dürfte sich allerdings beim Gipfel im Februar die Diskussion über ein Thema erweisen, das in der EU immer wieder besprochen und dann doch auf die lange Financial institution geschoben wurde – die sogenannten transnationalen Listen, auf denen Kandidaten bei der Europawahl länderübergreifend antreten könnten. Das Thema ist für die Europaabgeordneten nicht neu. Bereits im November 2015 sprachen sich die Abgeordneten im Grundsatz dafür aus, dass bei den Europawahlen künftig auch länderübergreifende Listen zugelassen werden sollen. Doch damals blockten die EU-Mitgliedstaaten den Vorschlag ab. Dass Großbritannien jemals aus der Europäischen Union ausscheiden würde, hielt seinerzeit kaum jemand für möglich. Folglich konnte sich auch niemand richtig vorstellen, wie im Parlament neue Sitze für die Mandatsträger geschaffen werden sollten, die auf transnationalen Listen kandidieren.
Doch mit dem Referendum vom Juni 2016, bei dem sich die Briten gegen die EU aussprachen, hat sich die Bother geändert. Die Befürworter transnationaler Listen, allen voran Belgiens Ex-Regierungschef Guy Verhofstadt, wittern Morgenluft. „Der Brexit gibt united states of americaeine historische und einmalige Likelihood“, erklärte der Fraktionschef der Liberalen im vergangenen September.
Auch der Sozialdemokrat Leinen findet, dass jetzt die Gelegenheit günstig ist, „um die transnationalen Listen noch einmal auf die Agenda zu bringen“. Ein Teil der frei werdenden britischen Sitze, so lautet die Überlegung, könnte zu länderübergreifenden Mandaten umgewidmet werden.
Macron macht sich für länderübergreifende Listen stark
Zudem hat die Idee, dass Kandidaten gleich in mehreren Mitgliedstaaten antreten, in dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron einen mächtigen Fürsprecher gefunden. Bei einer symbolgeladenen Rede in Athen, der Wiege der Demokratie, sprach sich Macron im vergangenen September für das Konzept aus.
Allerdings ist fraglich, ob die Bürger in der Europäischen Union bereits bei den kommenden Europawahlen im Frühjahr 2019 ihr Kreuzchen auch bei den staatenübergreifenden Parteilisten machen können. Das liegt zunächst einmal an ganz praktischen Erwägungen. Eine Änderung des Wahlrechts, die für die Einführung der neuen Listen nötig wäre, müsste in sämtlichen Parlamenten in der EU durchgewunken werden. Vor der kommenden Europawahl ist ein derartiger Kraftakt kaum zu schaffen.
Widerstand bei Konservativen im Europaparlament
Aber die Listen sind auch politisch umstritten. Während sich Macron der Unterstützung Griechenlands, Spaniens und Italiens sicher sein kann, stehen vor allem mittelgroße und kleinere Staaten dem Vorschlag skeptisch gegenüber. So gelten bislang Tschechien, Portugal, Dänemark, Österreich und Bulgarien als Blockierer. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist bislang noch nicht als glühende Verfechterin von länderübergreifenden Listen in Erscheinung getreten.
Und im Europaparlament formiert sich vor allem in den Reihen der konservativen EVP-Fraktion ebenfalls Widerstand. So wendet sich die polnische Abgeordnete Danuta Hübner, die Vorsitzende des Verfassungsausschusses, gegen Macrons Vorhaben, beim Gipfel im Februar eine Entscheidung über die neue Zusammensetzung der Mandate im EU-Parlament mit der Diskussion über die transnationalen Listen zu verquicken. „Es hängt von der genauen Ausgestaltung dieser Listen ab, ob sie tatsächlich zu mehr Bürgernähe in der EU führen“, gibt Hübner zu bedenken.
Auch der CDU-Abgeordnete Caspary hat die Befürchtung, dass die Benennung der Kandidaten für die neuartigen Listen im „Brüsseler Raumschiff“ erfolgen würde. „Das trägt nicht zur Bürgernähe bei“, sagt auch er.
Dieser Text erschien in der « Agenda » vom 12. Dezember 2017 – einer Publikation des Tagesspiegels, die dienstags erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie jeweils bereits am Montagabend im E-Paper des Tagesspiegels lesen.
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